Wie konsequent die Entwicklung eines Künstlers verläuft, die sich dem Auge eher voller Gegensätze anbietet, zeigt das Lebenswerk von Dieter Stöver auf exemplarische Weise. Er selbst hat einmal von "langen Umwegen" gesprochen, die ihn das Landschaftsthema - das Hauptthema seiner reifen Jahre, hat finden lassen.
In seinen Landschaften gelang Stöver die Synthese seiner Seh-Erfahrungen und seiner künstlerischen Experimente. In der Landschaft fand er das lang gesuchte Maß seiner künstlerischen Freiheit.
Beeindruckt von den Bildern der alten Niederländer hat Stöver in Oldenburg mit "realistischen Naturstudien" begonnen. In der Städel-schule in Frankfurt (1947-1950) - er gehörte noch zu den Studenten, die das durch Bomben zerstörte Gebäude mit enttrümmern mußten, ehe sie endgültig immatrikuliert wurden, war er in der Klasse von Wilhelm Heise, für dessen Bilder Franz Roh in den späten zwanziger Jahren den Begriff des "magischen Realismus" geprägt hatte.
Von Frankfurt ging Stöver an die Akademie der bildenden Künste in München. Bis 1954 hat er dort bei Hans Gott und bei Erich Glette sein Studium fortgesetzt - bei Malern, die an der Entwicklung der abstrakten Kunst im Nachkriegs-deutschland nicht beteiligt waren.
Auf sich allein gestellt, entwickelte sich Stöver nach der strengen und eher traditionellen Ausbildungszeit bald in eine ganz andere Richtung. In den sechziger Jahren finden wir ihn mitten in der informellen Kunst jener Zeit. Rückblickend möchte man Stövers damalige Arbeiten nicht so sehr in der Nachfolge der von den Surrealisten zum ersten Mal praktizierten "ecriture automatique" sehen, sondern mehr im Bereich des "abstrakten Expressionismus" mit figürlichen Reminiszenzen von Malern wie Asger Jörn und den anderen Mitgliedern der Gruppe COBRA. Besonders beeindruckt haben ihn damals auch Tapies und Michaux.
Auf Stövers "informelle" Pinselzeichnungen der sechziger und seine "Materialbilder" der frühen siebziger Jahre, denen man den Furor ihrer Entstehung ansieht, folgten einige Collage-Bilder, die in ihrer Direktheit damals viele überrascht haben. Sie brachten dem Maler die spätere Freiheit in der Wahl seiner künstlerischen Mittel. Stöver begann, Reste von alten Säcken aus Rupfen auf die Leinwand zu kaschieren, mehr und mehr auch die Leinwand ganz mit Rupfen zu überspannen. Risse, Fasern, Löcher, wurden in der Oberflächenstruktur der Bilder für das große Thema Landschaft verwendet, bestimmten Struktur und Entstehung.
Stöver steht mit seinen Landschaftsbildern in der Malerei jener Jahre ziemlich allein - nicht nur in der Wahl der künstlerischen Mittel, auch in seiner Vorstellung. Ohne Pathos, frei von jeder Heroisierung, frei auch von allen luministischen Effekten wandte er sich dem großen Thema der deutschen Romantik zu: Von heute aus betrachtet in einer Art von Anti-Position. Mit dem Blick in die Nähe und die Leere der vertrauten Umgebung - vor seiner Haustür im Bayerischen und während längerer Aufenthalte in der Toskana und auf Sardinien - entwickelte er eine neue, für ihn charakteristische Distanz. Aus allen Landschaften von Stöver kommt einem Stille entgegen. Sie hat ihren Grund in seinem die äußeren Erscheinungen durchdringenden Blick und einer auf Erkenntnis bedachten und vom Erlebnis geprägten Wahrnehmung.
Alle Landschaften Stövers sind menschenleer. Er breitet die Erde vor unseren Augen aus als etwas U nbetretbares, Unberührbares, so sehr die von ihm gemalten Gegenden auch von alters her vom Menschen und seiner Kultur geprägt sind: Einzelne Bäume am hochgezogenen Hori-
zont; Wege, die sich an sanften Anhöhen hinaufwinden; blühende Weinberge,- Reste von Gemäuer. Seine Landschaften sind voller menschlicher Spuren. So könnte die Erde aussehen, wenn die Menschheit nicht mehr vorhanden wäre. So still, so karg, voller Erwartung und Erinnerung...
Das Fremde im Vertrauten, die Ferne in der Nähe: Das differenzierte Licht, das aus der Landschaft zu kommen scheint, es entmaterialisiert und entrückt.
Stöver hat in seinen Bildern ausschließlich Acrylfarben verwendet. Auf dem Gitter der Rupfenfäden wirken die Farben zuweilen wie Pastell. Die "Höhenunterschiede" im zum Teil schadhaften Gewebe, durch die ungleiche Gitterstruktur verursacht, verstärken den Eindruck des diffusen Lichts, machen es sichtbar und an manchen Stellen fast haptisch spürbar. Wo die Farbe konzentriert an einigen Stellen durch die brüchigen Strukturen des Grundes wächst, entstehen zusätzliche reflektierende Akzente. Farbzonen, farbige Übergänge und Nuancen lösen sich nicht von der Struktur des Gewebes.
So nah wir vor diesen Landschaften auch stehen mögen, so schmal der Ausschnitt der Wirklichkeit auch immer sein mag, so offen das Gelände sich gegen den Horizont absetzt: Immer führt etwas den Blick über Grenzen hinweg, ist das Unendliche gegenwärtig. Für diesen Maler war die Welt größer als sein Bild. Wenn Wege sich im Horizont verlieren, wenn die Farbe der abgeschabten Fasern, wenn helles Gelb, zartes oder dichtes Weiß, graues Grün oder Graublau uns nicht blenden - immer ist man der Stille ausgesetzt und der Einsamkeit. Denn da ist niemand - wie noch bei Casper David Friedrich - mit dem man sich identifizieren könnte, und man ist so allein wie Land-art-Leute in der Wüste von Nevada. Wie groß die Welt ist und wie nah das Unendliche - der Maler erinnert daran.
DORIS SCHMIDT