Eine neue Romantik? aus "Die Kunst" 1975
Der Landschaftsmaler Dieter Stöver
Von Juliane Roh
Die Rückkehr zur Realität und damit zu einer erneuten Konfrontation der Kunst mit ihrer Umwelt führte in ihren extremen und vielfach begrüßten Möglichkeiten zu einem völligen Bruch mit dem bisherigen Begriff von Kunst überhaupt. Pop setzt zu Anfang der sechziger Jahre hierzu das Signal. Wirklichkeit wurde nun nicht mehr durch Kunst nach ihrer emotionalen Aussagequalität befragt (wie das bisher der Kali war), sondern Kunst wurde umgekehrt durch Realität in Frage gestellt. Man brüskierte sie durch das banale, beliebige, absolut klischeehafte Leben. Pop überraschte nicht nur durch die Banalität der
Inhalte, es schockierte auch durch den bedenkenlosen Einsatz vulgärer Ausdrucksmittel, die man in der landläufigen Reklame vorfand. Der darauf folgende Fotorealismus verzichtete auch noch auf die Möglichkeit plakativer Umsetzung; man begnügte sich mit dem Abmalen gleichgültiger Fotos aus dem Leben. Die Provokation der Pop-Malerei bewirkte aber auch bei ihren Gegnern eine Tendenzwende. Man kam am Existenzanspruch der Realität nicht mehr vorbei. Versuche, ohne Kunst, d. h. ohne deren Gestaltungsanspruch, wieder auf die Problematik der Realität aufmerksam zu machen, fanden außerdem in der Land-art und Konzeptkunst statt. In beiden Fällen sind die gesetzten Spuren und Zeichen nicht identisch mit dem Gemeinten; ein Auseinanderklaffen von Form und Inhalt wird nicht nur in Kauf genommen, sondern — wie es im Jargon dieser Kunst heißt — bewußt gemacht. Fast immer läuft es dabei auf eine mehr oder minder eindrucksvolle Ohnmachtserklärung der Künstler hinaus, die darauf verzichten, mit einer subjektiven Formgebung (Formulierung) einen problematischen Tatbestand zu bewältigen. Man führt die Subjekt-Objekt-Spannung keiner Lösung zu, sondern zeigt sie auf — meist als ein Auseinanderklaffen des Unvereinbaren. So wenn Land-arti-sten in die Unendlichkeit der Wüste einen Graben ziehen oder wenn ein Konzeptkünstlcr wie Filliou auf ein Stück Pappe mit blauer Schulkreide schreibt: Jahne la couleur bleue. In beiden Fällen bleibt der Anspruch an den Künstler, etwas zu gestalten, unerfüllt. Auf der einen Seite also ein unreflektierter Abklatsch banaler Realitäten (Fotorealismus) und auf der anderen der bewußte Verzicht auf eine Aussage, aufgewertet zu »Kunst im Kopf«.
Gegen die mannigfachen und durch die letzte »documenta« ins Rampenlicht gerückten Äußerungen von Antikunst (denn als solche wollen die jeweiligen Extrempositionen verstanden sein) erhob sich eine breite Phalanx von Gestaltern, die mit Mitteln der Kunst auf die erneute Konfrontation mit der Realität antworten. Ihr Weg führt weder in die Resignation noch in die Unterwerfung. Vielmehr setzen sie ihre Formmittel, die bisher einer weitgehend autonomen, von der Außenwelt unabhängigen Bildwelt dienten, nun als ein Instrumentarium ein, auf das die Umwelt zu reagieren hat. Es findet heute eine Annäherung zwischen Wirklichkeit und Abstraktion in der umgekehrten Richtung statt. Am Beginn: Entfernung aus der Realität, um eine autonome Welt der künstlerischen Mittel aufzubauen, und jetzt — von dieser Position her — eine erneute Annäherung an die Realität. Dabei kommt es durchaus zu harter Konfrontation: die Realität hat der Gegenwelt des Abstrakten standzuhalten und umgekehrt.
Aus dieser fruchtbaren Auseinandersetzung zieht vor allem die allenthalben wieder erstarkende Landschaftsmalerei ihren Nutzen. Man nähert sich ihr von vielen Seiten: vomNeokonstruktivis-mus her, von der Op-art, vom
Ornamentalismus und — nicht zuletzt — von der Gesten- und Strukturenphantasie des Informel. In Deutschland wären für die letzte Möglichkeit Künstler wie Dieter Stöver, Karl Bohrmann, Rudolf Schoofs und der von der Materialcollage ausgehende Andreas Bindl zu zitieren. Dieter Stöver (geb. 1922) ist der
älteste dieser zwischen 1920 und 1950 geborenen Zwischengeneration, welche die Wandlungs- und Überlebensfähigkeit des Informel eindrucksvoll dokumentiert. Bei Stöver führte die neue Hinwendung zur Realität zu einem Aufschwung seiner künstlerischen Kräfte. Jetzt hatten sich die Formmittel des Informel gleichsam an der Natur zu bewähren. Seine Strukturenphantasie fand ihren Kristallisationspunkt: Sie schloß sich an die reale Landschaft an. Zu Beginn der neuen Phase gibt es noch den Überraschungseffekt des Umschlagens und der bewußten Doppeldeutigkeit. Ein tachistisches Streifenmuster kann zugleich als in die Tiefe eilende Ackerfurchen gelesen werden. Die unbemalte. braune Leinwand wird ebenfalls zu einem doppeldeutigen Stück Realität: Auf der einen Seite bleibt sie unbemalter Grund, leer gelassenes Bildfeld, auf der anderen signalisiert sie Raumwand oder Ackerland oder auch ein rahmendes Fenster. In den Bildern zwischen 1968 und 1972 behauptet sich der autonome Ausdruck von Gesten und Strukturen, auch wenn durch die Hinführung eines hoch genommenen Horizonts und einiger sich verkürzender Wegmarken aus abstrakten Flächen weiter Raum und aus gegenstandslosen Malgesten in die Tiefe eilende Ackerfurchen werden.
In neueren Arbeiten seit 1972 spielen derlei lapidare Verkürzungseffekte eine geringere Rolle. Die gestische Komponente, die den Ackerfurchenbildern ein so dynamisches Gepräge gab. wird merklich zurückgenommen. Seit Stöver neben dem braunen Malgrund der Leinwand mehr und mehr
auch alte, vergammelte Sackleinwand als Strukturelement einsetzt, werden Bildmaterie und Erdmaterie auf subtile Weise einander angenähert und zur Deckung gebracht. Man soll das Wunder ihrer Übereinstimmung genießen. Die stark verkleinerten Wiedergaben lassen leider nur unvollkommen ahnen, zu welch entmaterialisiertem Reiz eine grobe Sackstruktur mit Rissen und Flecken emporgeläutert werden kann.
Manchen mag wundern, warum diese einfachen Ackerbilder mit ihrer gleichmäßigen Gliederung durch Rebstöcke oder Lavendelbüsche so wenig farbig sind. Man kann nicht alles auf einmal haben. Ein lebhafteres Kolorit würde den Charakter der Sackleinwand, ihre absichtlich unansehnliche Struktur, in einer Richtung verschönen, die sie aus der Erdnähe entfernen müßte. Acker und Schnee gehen mit der Leinwandkörnung und damit mit dem Bildobjekt eine so enge Verbindung ein, daß das Element Farbe hier nur stören würde. Jürgen Morschel schrieb: »Das Zurückweichen der prächtigen Farbhüllen von Landschaft und Leinwand legt elementare, greifbare Stofflichkeit als Reiz und Qualität frei. . .«
Man mag auf diese Arbeiten erneut den romantischen Begriff »Erdlebenbilder« anwenden. Stöver verehrt C. D. Friedrich wie einen Vorläufer. Bezeichnend ist. daß Himmel und Erde bei beiden in umgekehrtem Verhältnis stehen: Bei Friedrich gibt es niedere 1 lorizonte, gewaltigen Himmel und eine Dämmerung, welche die Nähe im aufkommenden Nachtdunkel versinken läßt, während die Helligkeit des Himmels die (Mitfeinten Schiffe über den Horizont emporzuheben scheint. Alles gerät in den Sog der strahlenden, kosmischen Ferne. Stöver dagegen räumt der Erde meist zwei Drittel der Bildhöhe ein; über der Horizontlinie gibt es keinen durchsichtigen, lichten Himmel, kein Abendrot und keine schillernden Wölkchen — nur eine konturlose, abweisende, manchmal metallisch graue Wand. Der Himmel ist hier das Gegenteil eines lockenden Tores; er bleibt kalt und abweisend. Statt der transzendenten Verheißungen eines friedvollen Firmaments steht nur der Kondensstreifen eines in die Tiefe rasenden Flugzeugs im Raum. Der Mensch scheint hier auf die Erde zurückverwiesen; auf die nackte Materie des Ackerbodens, in den er seine Wegmarken setzt: Zäune und Pfähle, als gelte es, mit dem Anbau ganz von vorne zu beginnen. Land-art hat bei Stöver zu einer bildhaften Form zurückgefunden, in der sich Natur — und Menschenwerk, Acker und Sackleinwand, zu einer Metapher der Condition humaine wie selbstverständlich verbinden.